Alles kann – nichts muss, in diesem Winter das Tournee-Motto der DSV-Adler
Eigentlich war im letzten Winter so ziemlich alles angerichtet, für einen Erfolg der Deutschen bei der Vierschanzentournee. Hofften jedenfalls Menschen mit Hang zur Theatralik und zur großen Bühne. Schließlich lag der „Grand Slam“ von Sven Hannawald exakt 20 Jahre zurück. Außerdem hatte man mit der 70. Tourneeauflage ein Jubiläum zu feiern und zudem waren Karl Geiger und Markus Eisenbichler vor der Tournee super in Form. Sie reisten sogar als Mitfavoriten zur Wettbewerbsserie rund um den Jahreswechsel an. Große Erwartungen wurden geschürt.
Geplatzte Tournee-Träume
Aber wie das so ist, mit den Erwartungen – mal erfüllen sie sich und mal nicht. In Sachen Vierschanzentournee erfüllen sich die Träume der Fans und die Erwartungen von Sportlern und Trainern aus deutscher Sicht seit Jahren nicht. Sven Hannawald war 2002 der letzte DSV-Adler, der ganz oben auf dem Treppchen stand. Danach gab es viele Versuche, auch hoffnungsvolle durch Severin Freund, Richard Freitag, Markus Eisenbichler oder eben Karl Geiger. Am Ende aber hießen die Sieger Prevc, Kobayashi, Kraft, Kubacki oder Stoch. Man könnte übrigens aus Sicht der Co-Gastgeber aus Österreich inzwischen ein ähnliches Lied anstimmen. Zwischen 2009 und 2015 gewann immer ein ÖSV-Adler, seither herrscht Flaute.
Nächster Anlauf
Und in diesem Winter? Da könnten zumindest die Deutschen einen kleinen psychologischen Vorteil ausspielen. Der begründet sich auf den Vorleistungen im ersten Saison-Trimester. Denn wenn man ganz ehrlich ist – mit Ruhm haben sich die DSV-Adler bisher nicht bekleckert. Das Abschneiden bei den Weltcups zwischen Wisla und Engelberg ist mit „solide“ noch freundlich umschrieben. Hoffnung aber machte der letzte Auftritt von Karl Geiger beim vorweihnachtlichen Weltcup auf der Titlis-Schanze in der Schweiz. Trotz Sturz reichte es für den Weltmeister zu einer Top-Ten-Platzierung. Was Ex-Bundestrainer Werner Schuster zur Aussage animierte, dass der Karle jetzt mit einem guten Gefühl die Reise ins heimische Oberstdorf und damit zur ersten Tournee-Station antreten könne.
Alle Jahre wieder – die Spekulation um den Tournee-Gesamtsieger
Womit wir bei den Favoriten für die 71. Tournee-Auflage wären. Natürlich muss da David Kubacki genannt werden. Der Pole hat seit dem Saisonstart einen phantastischen Lauf, dominiert die Konkurrenz und verfügt als Gesamtsieger von 2020 auch über die nötige Erfahrung, um mit dem Tourneestress umgehen zu können. Einziges Manko – die Tournee-Historie. In den seltensten Fällen kamen die Weltcup-Spitzenreiter aufs oberste Treppchen. Weitere heiße Kandidaten für den Gesamtsieg wären die Herren Halvor Egner Granerud aus Norwegen, Anze Lanisek aus Slowenien und Altmeister Stefan Kraft aus Österreich. Und selbst Titelverteidiger Ryoyu Kobayashi aus Japan dürfte ein Wörtchen um den Gesamtsieg mitsprechen wollen, wenngleich es dem Überflieger aus dem fernen Osten so geht wie den Deutschen: die Kontinuität fehlt.
Faktor Wind und Wetter
Das Verrückte an der Tournee ist aber, dass viel zu oft alle Voraussagen Makulatur wurden, weil äußere Umstände den Favoriten in die Parade fuhren. Und als ob acht Wertungssprünge auf vier verschiedenen Schanzen mit jeweils eigenem Charakter nicht schon genug wären – in den letzten Jahren spielte das Wetter eine große Rolle. Vor allem Föhn und Wind. Da nützte es auch nur bedingt, dass seit geraumer Zeit so genannte Windpunkte vergeben werden. Damit sollen die Ungerechtigkeiten, die der Freiluftsportart innewohnen, einigermaßen kaschiert werden.
Immer wieder mal war für den einen oder anderen Mitfavoriten in den letzten Jahren die Tournee schon nach dem ersten Durchgang in Oberstdorf gelaufen. Und seines Sieges sicher sein kann sich der Tourneeführende tatsächlich immer erst, wenn er das Finale in Bischofshofen hinter sich hat. Aber genau dieser Umstand macht ja den besonderen Reiz der Vierschanzentournee aus. Genau deshalb versammeln sich Jahr für Jahr Millionen Menschen vor den Fernsehern, genau aus diesem Grund sind die Stadien in den vier Tourneeorten (endlich wieder) pickepackevoll.
Rekordjagd
Sven Hannawalds phänomenaler Triumph 2002, als der Flugkünstler zur 50. Tourneeauflage als erster Springer auf allen vier Schanzen gewinnen konnte, wurde Jahre später von Kamil Stoch und Ryoyu Kobayashi wiederholt. Der Vorjahressieger scheiterte bei seinem zweiten Tourneesieg erst in Bischofshofen daran, den „Grand Slam“ zum zweiten Mal zu schaffen. Kobayashi und Stoch sind deshalb in der aktuellen Auflage, zumindest theoretisch, die Kandidaten für das Kunststück, als erster Schanzenpilot überhaupt 2x den Grand Slam zu erspringen. Ungefährdet ist dagegen der Rekord von Janne Ahonen. Der Finne gewann die Tournee-Gesamtwertung stolze fünf Mal, diese Bestmarke wird auch nach der Tournee 2022/23 noch Bestand haben. Möglich wäre den Gesamtsieg Ahonens 2006 zu egalisieren. Denn damals brachte der Finne das Kunststück fertig, auf die Zehntel genau gemeinsam mit Jakub Janda aus Tschechien ins Ziel zu kommen. Das bedeutete den bisher einzigen Tournee-Doppelsieg.
Und noch ein Rekord könnte wackeln. Finnland, Österreich und Deutschland stellen bisher mit je 16 Tourneeerfolgen die erfolgreichsten Nationen. Würde ein Finne in diesem Winter siegen, wäre das eine Sensation. Käme ein Österreicher ganz vorn an, wäre der Jubel im Nachbarland groß. Und könnte ein DSV-Adler den goldenen Vogel, der bei der Tournee die Trophäe des Siegers ist, in die Arme schließen, dann hätte bei den deutschen Skisprungfans das lange Warten endlich ein Ende. Aber auch bei der 71. Vierschanzentournee gilt die alte Weisheit: Alles kann – nichts muss. Und das gilt nicht nur für die Deutschen.

